Menü

 

Zeitzeugen

Ein Vierteljahrhundert in der Schweinauer Straße

 

 

Artikel aus unserem Stadtteilmagazin Ausgabe 11, Juli 2017

 

Die Schweinauer Straße in den Nachkriegsjahren

Mitten in St. Leonhard, in der Schweinauer Straße 38, habe ich das erste Vierteljahrhundert meines Lebens verbracht. Meine Eltern hatten es 1945 gerade noch rechtzeitig, bevor die leer stehende Wohnung beschlagnahmt worden wäre, geschafft, aus dem oberpfälzischen Kirchenreinbach wieder nach Nürnberg zu gelangen. Dorthin war nämlich mein kriegsverletzter Vater geflüchtet, um dem drohenden Einzug zum Volkssturm zu entgehen. Zum Zeitpunkt meiner Geburt lebten meine Eltern, Tante, Onkel und deren Sohn sowie der Großvater zusammen in der 3-Zimmer-Wohnung mit zwei beheizbaren Zimmern, Kammer und Küche.

Das um die Jahrhundertwende erbaute vierstöckige Mietshaus gehörte dem katholischen Hausbauverein. Unten im Erdgeschoß ist auch heute noch das „Schloss Egg“, wo damals Bier von der Brauerei Neustadt Aisch ausgeschenkt wurde. Neben uns im 2. Stock wohnte der Hausverwalter, beide Wohnungen waren lediglich durch eine Bretterwand voneinander getrennt. Er sah nach dem Rechten im Haus und kassierte am Ende des Monats die Miete ein, das waren in den 1950er Jahren ca. 35,- DM. Eine Bretterwand trennte auch die zwei Toiletten pro Etage, die jeweils einen Treppenabschnitt tiefer lagen. Das stille Örtchen war nicht beheizbar und so hielt man sich im Winter nur so lange auf wie unbedingt nötig. In besonders frostigen Nächten mussten wir die Wasserrohre mit Lappen umwickeln, um ein Einfrieren zu verhindern.

Gleichwohl war unsere sanitäre Ausstattung im Vergleich zu unserem Nachbarhaus gewissermaßen fortschrittlich, denn dort hatten die Mieter noch Plumpsklos und nicht nur wir Kinder hielten uns die Nasen zu, wenn die „Aborträumer“ mit ihren Tankwagen zugange waren. Ein Bad gab es weder bei uns noch in den Nachbarhäusern. Das tägliche Waschen und Zähneputzen wurde am „Guss“ in der Küche verrichtet, die intensive wöchentliche Körperreinigung fand bei uns mit einer Zinkbadewanne im Wohnzimmer statt. Als ich älter geworden war, besuchte ich dafür das Volksbad.

Unsere Küche war nur ein ganz schmaler Schlauch- kein ausreichender Platz für ein gemeinsames Frühstück. Bis Mitte der 1950er Jahre hatten alle Mietparteien einen holzbefeuerten Küchenherd zum Kochen und zum Heizen. Vor allem in der Küche hatte ein Bombeneinschlag unweit unseres Hauses tiefe Risse im Mauerwerk hinterlassen. Von Küche und Wohnzimmer aus schaute man daher auf eine Art Brachfläche, die später teilweise als Wirtschaftsgarten genutzt wurde. Die beiden anderen Räume hatten Fenster zur Straße hinaus und gewährten allen Bewohnern und insbesondere Bewohnerinnen den Blick auf alltägliche Geschehen auf der Straße und dem Gehsteig. An einigen Fenstern wurden schon morgens die Kissen aufs Fensterbrett gelegt und blieben dort oft bis in die Nachtstunden, wenn es nicht gerade regnete. Zu zweit oder auch alleine hielt man hartnäckig den Beobachterposten, um nichts zu versäumen, was sich da unten oder vis-a-vis abspielte. Ein Fernsehgerät besaß damals noch niemand.

Zu jeder Mietwohnung in unserem Haus gehörte neben einem Dachboden- ein Kellerabteil, wo unter anderem Anschürholz, Kohle und Kartoffeln gelagert wurden. Der Gang hinunter war für mich als Kind stets angstbesetzt, denn die Kellerleuchten spendeten nur trübes Licht, noch dazu war unser Kellerabteil im hintersten Winkel. Wenn dann schlurfende Schritte zu vernehmen waren, war das stets beunruhigend für mich, obwohl oder weil ich schon ahnte, dass es sich um den Gastwirt handelte, der Kindern stets mit finsterer Miene begegnete, jedenfalls nach meinem Eindruck. Da unten hatte er seine Räucherkammer und da waren auch die hölzernen Bierfässer gelagert, die in den frühen 1950er Jahren noch mit einem Pferdefuhrwerk angeliefert wurden. Die Bierkutscher hievten die Fässer auf ein am Boden vor dem Kellerfenster ausgelegtes Lederkissen und dann über Rollen in den Lagerraum.

Einmal im Monat erschien mir der Keller allerdings in einem anderen Licht, nämlich dann, wenn am Freitagabend meine Mutter bis spät in der Nacht mit „großer Wäsche“ im Waschraum dran war und ich lange aufbleiben durfte. Es musste ja erst der Waschkessel angeheizt werden, ehe es richtig losgehen konnte. Die Kochwäsche wurde in den Kessel verfrachtet, andere Wäschestücke auf dem riesigen hölzernen Waschtisch mit Wurzelbürste und Kernseife bearbeitet, dann gefleit und ausgewrungen. In der Pause gab es oft Schmalzbrote und manchmal noch ein „Windsheimer“ aus der Wirtschaft. Wir Kinder spielten im Hof, der durch einen Drahtzaun von dem Areal abgetrennt war, das zur Gastwirtschaft gehörte und von einem Kläffer bewacht wurde. Ballspielen im Hof war zwar untersagt, doch wir ließen uns nicht dauerhaft davon abhalten. Nur wenn der Omnibusfahrer, der im Erdgeschoß wohnte, zu Hause war, mussten wir uns in Acht nehmen. Er konnte schrecklich wütend und sogar handgreiflich werden, wenn wir mit dem damals beliebten Spiel Ball-an-die-Wand-Werfen es wagten, seinen Schlaf zu stören. In unserem Haus lebten nicht nur Kinderfreunde. Auch der grimmige Herr, der mit seiner Frau im ersten Stock wohnte und immer nur in seiner blauen Arbeitsschürze herumlief, obwohl längst im Rentenalter, war kein solcher und konnte einem Angst machen, wenn er einem seine Schimpfkanonade entgegenschleuderte, wenn man einmal das Grüßen versäumt hatte oder polternd die Treppen hinunterstürmte.

Nur wenige Schritte von unserer Wohnung entfernt gab es damals alles, was man für den täglichen Bedarf brauchte: zwei Metzgereien, drei Bäckereien, den alteingesessenen Damen- und Herrenfriseur „Neumüller“, unweit davon in der Grünstraße das Milchgeschäft „Iberle“, Richtung Schweinau war sogar ein Konsumladen, in den sich meine Mutter als „Genossin“ für fünfzig Mark eingekauft hatte, um über angesammelte Kassenzettel Rückvergütung zu bekommen. Als dann allerdings 1954 das Rabattgesetz geändert, die Rückvergütung gesenkt wurde und auch andere Geschäfte Rabattmarken geben durften, rentierte sich das nicht mehr. Für bestimmte Einkäufe schickte mich meine Mutter gerne zur „Springi“, in den Kolonialwarenladen im Erdgeschoß des Nachbarhauses, wo es neben vielem anderen, etwa Obst, Gemüse, Wurst und Käse, vor allem Landbutter aus dem Fass zu kaufen gab, die zwar immer etwas ranzig schmeckte, aber dafür billiger als die „gute“ Butter war, die man als Viertel oder sogar Achtel abgepackt kaufte und nur zum Brotaufstrich verwendete. Die Großmutter väterlicherseits, die Mitte der 1950er Jahre nach dem Auszug von Tante und Onkel und dem Tod des Großvaters bei uns lebte, schickte mich gerne zur Bäckerei „Ott“ an der Ecke Grünstraße und ließ sich ihre Zigaretten, damals in der 6er-Packung, oder Zichorie der Marke Quieta Grün bringen, womit sie ihren geliebten Bohnenkaffee etwas zu strecken pflegte.

Für den Schulbedarf gab es zwei Schreibwarenläden, den „List“ und den „Voit“, wo man sich mit den nötigen Heften und Stiften eindecken konnte. Für mich gab es zum Schuleintritt noch die Schiefertafel und Griffel. Erst in der zweiten Klasse hatten wir ein Heft zum Schönschreiben, das als Schulfach sogar Eingang in Zeugnisnoten fand. Da ich mich darin nicht besonders anstrengte und auch ansonsten nicht immer brav war, musste ich in der vierten Klasse bei dem strengen Lehrer zusammen mit anderen Leidensgenossen öfter nach Unterrichtsschluss antreten zum „Pfötchen“ abholen, die mit dem Spanischrohr verabreicht wurden. Wahrscheinlich gehörte ich daher auch nicht zu der Handvoll Schüler, die im Klassenzimmer im zweiten Halbjahr hinten sitzen durften, um mit schwierigeren Aufgaben für das Gymnasium vorbereitet zu werden. Als mein Vater mir eines Tages ein Schreiben für meinen Lehrer mitgab, worin er bekundete, dass ich für die Aufnahmeprüfung antreten wolle, kommentierte das der Lehrer mit den Worten: „Heß, das schaffst du nie, und wenn doch, dann sehen wir dich in der nächsten Klasse wieder.“ Eingetreten ist seine Prognose zu meinem Glück nicht.

Mehr noch als heute war St. Leonhard zur damaligen Zeit Peripherie. Gleich hinter der Gaststätte an der Ecke Grünstraße/Kreuzerstraße waren Schrebergärten, Felder und die „Kiels-Wiesen“, die dem letzten Bauern im Viertel gehörten. Die Gastwirtschaft, für viele Leonharder immer noch das „Kriegerheim“, hatte man irgendwann nach dem Krieg in „Friedensheim“ umgetauft. Auch ansonsten blieben die Alteingesessenen noch vielfach bei den alten Namen. Wollte man zum Kleidereinkauf in die Innenstadt, so hieß es meistens, dass man zum „Tietz“, oder zum „Schocken“ fahre, obwohl beide Kaufhäuser im Rahmen der Arisierungsmaßnahmen den Besitzer gewechselt hatten und inzwischen „Kaufhaus Weißer Turm“ und „Merkur“ hießen. Wenn meine Mutter sich in die Innenstadt aufmachte, sprach sie stets davon, dass sie „in die Stadt“ gehe, gerade so, als wohne man gar nicht in der Stadt Nürnberg, sondern eben in seinem Viertel.

(Romin Heß. Jahrgang 1947)