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Zeitzeugen

Erinnerungen an St. Leonhard

 

 

Artikel aus unserem Stadtteilmagazin Ausgabe 10, Januar 2017

 

Erinnerungen an St. Leonhard vor 60 Jahren

1953 zogen meine Eltern mit mir als 10-jährigem Jungen von einem 300-Seelen-Dorf am Rande des fränkischen Jura in die Großstadt Nürnberg nach St. Leonhard. Mein Vater wohnte schon einige Zeit in einer kleinen Gartenlaube an der Blücherstraße, die damals noch ein staubiger Feldweg war. Als er eine Wohnung in den Wohnblöcken bekam, die sein Arbeitgeber an der Heinrichstraße baute, holte er seine Familie nach. Die Ausstattung der Wohnung war der Zeit entsprechend einfach: eine Ofenheizung im Wohnzimmer, die Kohlen mussten aus dem Keller in den vierten Stock geschleppt werden; das Bad war zwar vorbereitet, Wanne und Gasofen mussten aber auf eigene Kosten nachgerüstet werden; im Waschhaus dominierte ein riesiger Kessel zum Wäschekochen. Beim Wäschewaschen – ich musste mithelfen – war es dampfig wie in einer Sauna. Vom Schlafzimmerfenster aus hatte man einen weiten Blick über Felder,  im Hintergrund das amerikanische Hospital an der Rothenburger Straße.

Der Kontrast zwischen der einklassigen Dorfschule und der für mich riesigen Volksschule an der damals noch viel-befahrenen Schweinauer Straße konnte größer nicht sein. Der Charme des schönen Jugendstilgebäudes war mir noch nicht bewusst, den habe ich erst Jahrzehnte später schätzen gelernt. Und die getrennten Eingänge für Jungen und Mädchen kannte ich auch nicht: prompt benutzte ich die falsche Türe! Die Stadtbücherei war nach dem geistigen Notstandsgebiet auf dem Dorf ein Eldorado für mich, ich verschlang die ausgeliehenen Bücher geradezu. Dank meines Lehrers („der Junge muß auf eine höhere Schule“) gelang mir der späte Sprung über die Höhere Handelsschule für Jungen auf die Wirtschaftsoberrealschule am Webersplatz, das heutige Johannes-Scharrer-Gymnasium. Sie war in den Resten der im Krieg beschädigten Gebäude untergebracht, das bedingte oft Nachmittagsunterricht. Zum Turnen mussten wir in die benachbarte Volksschule am Paniersplatz und ein Mittagessen konnte man in der Jugendherberge der Kaiserstallung kaufen.

Die heutigen Schulgebäude habe ich mit meiner ehemaligen Abiturklasse zum 50-jährigen Abi-Jubiläum sehr interessiert besichtigt und über die phänomenale Ausstattung gestaunt. Mein damaliger Schulweg mit der Straßenbahnlinie 14 wurde morgens öfter durch geschlossene Schranken unterbrochen, wenn in der Schwabacher Straße auf dem Zubringergleis zum Schlachthof der Viehtransporter kreuzte, damals noch von einer Dampflok angetrieben. Die katholische Pfarrei St. Bonifaz feierte ihre Gottesdienste in einem ehemaligen Tanzsaal an der Lilienstraße. Pfarrer Anton Müller stand auf der Bühne am Altar und der hintere Teil des Saales war so niedrig, dass mir Heranwachsendem regelmäßig schlecht wurde. Die Notkirche war sonntags immer gut gefüllt und die Luft entsprechend stehend. Die neue Pfarrkirche sollte neben dem gerade im Aufbau befindlichen Jugendhaus Stapf entstehen. Dabei wurde das markante vordere Eckgebäude an der Leopoldstraße vorbereitet, um darauf den geplanten Kirchturm zu errichten. Das Jugendhaus und unsere Wohnhäuser bildeten die einzige Bebauung auf der Westseite, die Heinrichstraße war damals noch nicht zur Rothenburger Straße durchgebaut. Auf dem Areal des heutigen grünen Marie-Juchacz–Parks hatte die Tiefbaufirma Hilpert ihren Lagerplatz.

1962 wurde endlich mit dem Bau der Pfarrkirche begonnen, der zugehörige Turm auf dem Stapfgebäude fehlt bis heute. In den bestehenden Wohnhäusern aus der Vorkriegszeit gab es einige Läden und kleine Handwerks- bis mittelständische Betriebe. Die Geschäfte waren nach „Tante Emma“ sortiert mit Rabattmarken zum Einkleben, im kleinen Milchladen wurde noch aus der großen Kanne in mitgebrachte Gebinde geschöpft, auch Sonntagfrüh, da ein eigener Kühlschrank noch großer Luxus war. Die alteingesessene Bäckerei Nachtrab war sehr beliebt. Gegenüber unserem Haus verkauften zwei alleinstehende Damen Getränke flaschenweise durch das Erdgeschoßfenster zu jeder Tages- und (fast) jeder Nachtzeit. Daneben baute ein Schreiner richtige Tische, Schulbänke und Schränke, die bei gutem Wetter im Hof lackiert wurden. Die benachbarte Autowerkstatt hatte kaum Pkw in Arbeit, davon gab es damals nicht viele, dafür aber große Lkw, die noch richtig zerlegt und repariert wurden. Für den Aus- und Einbau der großen Motoren benutzte man einen Ketten-Flaschenzug, handbetrieben!

Das konnten wir alles schön bequem auf einem Kissen lehnend vom Fensterbrett aus beobachten, eine beliebte Freizeitbeschäftigung vor Beginn der Fernsehzeit. Um die Ecke in der Orffstraße residierte die Feuerzeugfabrik CONSUL, deren Qualitätsprodukte heute noch als Raritäten gesammelt werden. In der Schwabacher Straße fand man den gutgehenden Haushalt- und Eisenwarenladen Ammon, der alles für den Haushalt und den Heimwerker im Angebot hatte. Sogar ein Kino gab es in der Leopoldstraße, vor der Fernsehzeit gut frequentiert. Der Arzt des Viertels, Dr. Mellar an der Ecke Leopold-/Heinrichstraße, behandelte sehr volkstümlich, Darmgrippe z. B. wurde mit Rizinusöl und Tee kuriert.

Eine Gastwirtschaft mit schönem Garten war an der Ecke Kreutzer-/Grünstraße angesiedelt. Auf diesem Grundstück steht heute ein Wohnblock, in den meine Eltern in den siebziger Jahren übersiedelten. Einige Zeit nach dem Tod ihres Mannes zog meine Mutter dann in das nahe gelegene Christian-Geyer-Heim. Von ihrem Zimmer im 6. Stock genoss sie eine herrliche Aussicht auf St. Leonhard, die Altstadt und die Burg.

Als sie 2007 starb, hatte sie über die Hälfte ihres Lebens in St. Leonhard verbracht, nie mehr als einen Steinwurf von St. Bonifaz entfernt. Mein eigener Lebenslauf führte mich 1964 nach Konstanz, später nach München. Die Verbindung zu Nürnberg und St. Leonhard war aber immer sehr eng, die weitere Entwicklung habe ich intensiv verfolgt. Glücklicherweise gibt es auch jetzt noch viele Anlässe und Gelegenheiten, die alte Heimat zu besuchen.

Herbert Koller (Juli 2016)